
Thoracic-outlet-Syndrom (TOS): Wenn der Schultergürtel zur Engstelle wird – Ursachen, Symptome und moderne Therapien
Kribbeln in den Fingern, ein unerklärlicher Schmerz, der vom Nacken in den Arm zieht, oder eine Hand, die sich plötzlich schwach und ungeschickt anfühlt – viele Menschen kennen diese Symptome. Oft werden sie auf eine unbequeme Schlafposition, eine kurzfristige Überlastung oder den allgegenwärtigen „eingeklemmten Nerv“ geschoben. Doch was, wenn die Beschwerden bleiben, wiederkehren oder sich sogar verschlimmern? In solchen Fällen könnte eine oft übersehene und komplex zu diagnostizierende Erkrankung dahinterstecken: das Thoracic-outlet-Syndrom, kurz TOS. Dieser umfassende Leitfaden taucht tief in die Welt des TOS ein, erklärt seine Ursachen, beleuchtet die vielfältigen Symptome und zeigt die modernen Wege der Diagnose und Behandlung auf.
Was genau ist das Thoracic-outlet-Syndrom? Eine Reise in die Anatomie des Schultergürtels
Um das Thoracic-outlet-Syndrom zu verstehen, müssen wir zunächst einen kleinen Ausflug in die Anatomie unseres Körpers unternehmen. Der „Thoracic outlet“ (obere Thoraxapertur) ist keine einzelne Struktur, sondern ein anatomischer Raum – eine Art Engpass im Bereich des Übergangs vom Hals zum Brustkorb und weiter zum Arm. Durch diesen Korridor verlaufen lebenswichtige Strukturen, die unseren Arm versorgen: ein großes Nervengeflecht, der Plexus brachialis, sowie wichtige Blutgefäße, die Arteria subclavia (Unterschlüsselbeinarterie) und die Vena subclavia (Unterschlüsselbeinvene).
- Der Plexus brachialis: Dieses komplexe Netzwerk aus Nerven entspringt der Halswirbelsäule (Segmente C5 bis Th1) und steuert nahezu alle Muskeln und das Gefühl im gesamten Arm, von der Schulter bis in die Fingerspitzen.
- Die Arteria subclavia: Sie transportiert sauerstoffreiches Blut vom Herzen in den Arm.
- Die Vena subclavia: Sie führt das sauerstoffarme Blut aus dem Arm zurück zum Herzen.
Diese drei Strukturen müssen auf ihrem Weg durch den Schultergürtel mehrere natürliche Engstellen passieren. Die kritischsten Punkte sind:
- Die Skalenuslücke: Ein dreieckiger Spalt zwischen den vorderen und mittleren Skalenusmuskeln (Halsmuskeln) und der ersten Rippe. Hier verlaufen der Plexus brachialis und die Arteria subclavia.
- Der Kostoklavikularraum: Der Raum zwischen dem Schlüsselbein (Clavicula) und der ersten Rippe.
- Der Subkorakoidalraum: Der Bereich unter dem Korakoid (Rabenschnabelfortsatz), einem Knochenvorsprung des Schulterblatts, unter dem angespannten kleinen Brustmuskel (Musculus pectoralis minor).
Von einem Thoracic-outlet-Syndrom spricht man, wenn eine oder mehrere dieser drei Strukturen – Nerven, Arterie oder Vene – in einer dieser Engstellen komprimiert, also zusammengedrückt oder gereizt werden. Dieser Druck führt zu den vielfältigen und oft verwirrenden Symptomen des TOS.
Die vielen Gesichter des TOS: Die drei Haupttypen

Das TOS ist kein einheitliches Krankheitsbild. Je nachdem, welche Struktur primär komprimiert wird, unterscheidet man drei Hauptformen, deren Symptome und Dringlichkeit sich erheblich unterscheiden.
1. Das neurogene Thoracic-outlet-Syndrom (nTOS)
Mit über 90 % der Fälle ist dies die mit Abstand häufigste Form des TOS. Hier wird der Plexus brachialis, das Nervengeflecht, komprimiert. Die Symptome sind oft diffus und können sich über lange Zeit entwickeln. Betroffene klagen typischerweise über:
- Schmerzen: Oft ein dumpfer, ziehender Schmerz im Nacken, der Schulter, der Brustwand, dem Arm oder der Hand.
- Parästhesien: Missempfindungen wie Kribbeln, Taubheit oder ein „Ameisenlaufen“. Am häufigsten treten diese im Ringfinger und kleinen Finger sowie an der Innenseite des Unterarms auf (entsprechend dem Versorgungsgebiet des Nervus ulnaris).
- Schwäche: Eine nachlassende Griffkraft, das Gefühl, dass Gegenstände aus der Hand fallen, und eine schnelle Ermüdung des Arms, besonders bei Überkopfarbeiten (z.B. Haare föhnen, etwas an die Wand malen).
- Kopfschmerzen: Oft im Hinterkopfbereich (okzipitale Neuralgie), ausgelöst durch die ständige Anspannung der Halsmuskulatur.
- „Tired Arm Syndrome“: Ein allgemeines Gefühl von Schwere und Müdigkeit im betroffenen Arm.
Die Symptome des nTOS werden oft durch bestimmte Haltungen oder Aktivitäten provoziert, wie das Tragen einer schweren Tasche, langes Autofahren oder Arbeiten mit erhobenen Armen.
2. Das venöse Thoracic-outlet-Syndrom (vTOS)
Diese Form, die etwa 3-5 % der Fälle ausmacht, entsteht durch die Kompression der Vena subclavia. Im Gegensatz zum oft schleichenden nTOS treten die Symptome des vTOS meist plötzlich und dramatisch auf. Die Kompression führt zu einer Thrombose (Blutgerinnsel) in der Vene, was den Blutabfluss aus dem Arm blockiert. Dieses Phänomen wird auch als Paget-von-Schroetter-Syndrom oder „Anstrengungsthrombose“ bezeichnet, da es oft nach intensiver körperlicher Betätigung des Arms auftritt. Die Symptome umfassen:
- Akute Schwellung: Der gesamte Arm schwillt massiv an.
- Zyanose: Eine bläuliche oder rötliche Verfärbung der Haut am Arm und an der Hand.
- Sichtbare Venen: Erweiterte, oberflächliche Venen an der Schulter und Brustwand, die als Umgehungskreislauf dienen.
Das vTOS ist ein medizinischer Notfall, der eine sofortige Behandlung erfordert, um Langzeitschäden wie das postthrombotische Syndrom zu verhindern.
3. Das arterielle Thoracic-outlet-Syndrom (aTOS)
Die seltenste, aber gefährlichste Form des TOS (ca. 1 % der Fälle) wird durch die Kompression der Arteria subclavia verursacht. Der ständige Druck kann die Arterienwand schädigen, was zu einer Engstelle (Stenose) oder einer Ausbuchtung (Aneurysma) führt. In diesem Aneurysma können sich Blutgerinnsel (Thromben) bilden, die mit dem Blutstrom in den Arm gespült werden (Embolie) und dort kleinere Arterien blockieren. Die Symptome sind:
- Ischämische Schmerzen: Schmerzen im Arm, besonders bei Belastung, aufgrund von Sauerstoffmangel.
- Kälte und Blässe: Die Hand und die Finger fühlen sich kalt an und sehen blass aus.
- Claudicatio: Schmerzhafte Krämpfe im Arm bei Aktivität, die in Ruhe nachlassen.
- Pulslosigkeit: Ein schwacher oder fehlender Puls am Handgelenk.
- Kleine Infarkte: Kleine, schmerzhafte Wunden oder schwarze Flecken an den Fingerspitzen (Mikroembolien).
Auch das aTOS ist ein absoluter Notfall, da ein vollständiger Verschluss der Blutzufuhr zum Absterben von Gewebe (Nekrose) und im schlimmsten Fall zum Verlust des Armes führen kann.
Warum entsteht ein Engpass? Die vielfältigen Ursachen des TOS
Die Gründe, warum der Thoraxausgang bei manchen Menschen zu eng wird, sind vielfältig und oft eine Kombination aus mehreren Faktoren.
- Angeborene (kongenitale) Faktoren: Etwa 1 % der Bevölkerung hat eine zusätzliche Rippe, die von der Halswirbelsäule ausgeht – eine sogenannte Halsrippe. Diese anatomische Variante engt den Raum erheblich ein und ist eine der häufigsten Ursachen, insbesondere für das arterielle TOS. Aber auch fibröse Bänder, die sich anstelle einer Rippe ausbilden, oder eine anomale Form der ersten Rippe oder des Schlüsselbeins können den Engpass verursachen.
- Traumatische Ereignisse: Unfälle, insbesondere ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule oder ein Bruch des Schlüsselbeins, können zu narbigen Veränderungen, Muskelverspannungen und einer veränderten Anatomie führen, die Monate oder Jahre später ein TOS auslösen.
- Funktionelle und haltungsbedingte Faktoren: Dies ist eine sehr häufige Ursache für das nTOS. Eine schlechte Körperhaltung mit nach vorne fallenden Schultern und einem nach vorne geschobenen Kopf („Geierhals“) verengt den Raum zwischen Schlüsselbein und erster Rippe. Dies führt zu einer chronischen Verkürzung des kleinen Brustmuskels und der Skalenusmuskeln, die dann auf das Nervengeflecht drücken.
- Repetitive Überlastung: Bestimmte Berufe (Maler, Elektriker, Friseure) oder Sportarten (Schwimmen, Werfen, Gewichtheben), die ständige Überkopfbewegungen erfordern, können zu einer Hypertrophie (Verdickung) der Skalenusmuskeln führen. Diese verdickten Muskeln drücken dann auf die durchtretenden Nerven und Gefäße.
- Tumore oder Zysten: In seltenen Fällen können raumfordernde Prozesse im Hals- oder Brustbereich auf die Strukturen des Thoracic outlet drücken.
Der Weg zur Diagnose: Ein detektivisches Puzzle
Die Diagnose eines TOS, insbesondere des neurogenen Typs, ist oft schwierig und langwierig. Die Symptome sind unspezifisch und können viele andere Erkrankungen imitieren, wie zum Beispiel einen Bandscheibenvorfall der Halswirbelsäule, ein Karpaltunnelsyndrom oder eine Multiple Sklerose. Ein erfahrener Arzt wird wie ein Detektiv vorgehen.
Der erste und wichtigste Schritt ist eine detaillierte Anamnese, bei der der Arzt gezielt nach der Art der Beschwerden, auslösenden Faktoren, Unfällen und beruflichen Belastungen fragt.
Darauf folgt eine gründliche körperliche Untersuchung. Der Arzt prüft die Haltung, tastet die Muskulatur ab und testet Kraft, Gefühl und Reflexe. Eine zentrale Rolle spielen sogenannte Provokationstests. Bei diesen Tests wird der Arm in verschiedene Positionen gebracht, um gezielt die Engstellen zu verengen und zu sehen, ob sich die Symptome des Patienten reproduzieren lassen. Bekannte Tests sind:
- Adson-Test: Testet die Kompression in der Skalenuslücke.
- Wright-Test: Testet die Kompression unter dem kleinen Brustmuskel.
- Roos-Test (Elevated Arm Stress Test): Ein sehr aussagekräftiger Test, bei dem der Patient die Arme 90 Grad anhebt und für bis zu drei Minuten wiederholt die Hände öffnet und schließt.
Es ist wichtig zu wissen, dass diese Tests allein nicht beweisend sind, da sie auch bei gesunden Menschen positiv ausfallen können. Sie geben aber in der Gesamtschau wichtige Hinweise.
Um die Diagnose zu sichern und andere Ursachen auszuschließen, kommen bildgebende Verfahren zum Einsatz:
- Röntgenaufnahme: Zum Nachweis oder Ausschluss einer Halsrippe oder anderer knöcherner Anomalien.
- Ultraschall (Sonographie): Eine dynamische Doppler-Untersuchung kann die Kompression der Blutgefäße bei bestimmten Armbewegungen sichtbar machen.
- MRT (Magnetresonanztomographie): Zeigt detailliert die Weichteile, also Muskeln, Bänder und das Nervengeflecht selbst, und kann eine Kompression direkt darstellen.
- CT (Computertomographie): Wird seltener eingesetzt, kann aber bei der Planung einer Operation hilfreich sein.
- Angiographie/Phlebographie: Eine Kontrastmitteldarstellung der Arterien bzw. Venen, die bei Verdacht auf ein vaskuläres TOS (vTOS oder aTOS) der Goldstandard ist.
Bei Verdacht auf ein neurogenes TOS kann eine Nervenleitgeschwindigkeitsmessung (NLG) und eine Elektromyographie (EMG) Aufschluss darüber geben, ob und wo ein Nerv geschädigt ist. Allerdings sind diese Untersuchungen beim nTOS oft unauffällig, da die Kompression oft intermittierend ist.
Wege aus der Enge: Moderne Behandlungsstrategien
Die Behandlung des TOS richtet sich nach dem Typ und der Schwere der Erkrankung. Grundsätzlich gilt: Bei einem venösen oder arteriellen TOS ist fast immer eine rasche, oft operative Intervention nötig. Beim weitaus häufigeren neurogenen TOS steht die konservative Therapie an erster Stelle.
Konservative Therapie (bei nTOS)
Das Ziel der konservativen Behandlung ist es, den Engpass zu weiten, indem die Haltung korrigiert, verkürzte Muskeln gedehnt und abgeschwächte Muskeln gekräftigt werden. Der Erfolg steht und fällt mit der aktiven Mitarbeit des Patienten. Die wichtigste Säule ist eine spezialisierte Physiotherapie, die folgende Elemente umfasst:
- Haltungsschulung: Erlernen einer aufrechten Haltung, um den Kostoklavikularraum zu öffnen.
- Dehnung: Gezieltes Dehnen der Skalenusmuskulatur und des kleinen Brustmuskels, um den Druck von den Nerven zu nehmen.
- Kräftigung: Stärkung der schulterblattstabilisierenden Muskulatur (z.B. Rhomboiden, Serratus anterior) und der tiefen Nackenflexoren.
- Atemtherapie: Die Zwerchfellatmung entlastet die Atemhilfsmuskulatur am Hals (Skalenusmuskeln).
- Manuelle Therapie: Mobilisation der ersten Rippe, der Hals- und Brustwirbelsäule.
Unterstützend können Medikamente wie Schmerzmittel (z.B. NSAR), Muskelrelaxantien oder Medikamente gegen Nervenschmerzen (Antikonvulsiva, Antidepressiva) eingesetzt werden. In einigen Fällen kann eine Injektion von Botulinumtoxin (Botox) in die Skalenusmuskeln sinnvoll sein. Das Nervengift lähmt die Muskeln vorübergehend, was den Druck auf den Plexus brachialis reduziert und ein „diagnostisches Fenster“ öffnet, um zu sehen, ob der Patient von einer operativen Muskelentfernung profitieren würde.
Operative Therapie
Eine Operation wird beim nTOS erst in Betracht gezogen, wenn eine konsequente konservative Therapie über mindestens 6-12 Monate keine Besserung gebracht hat oder die neurologischen Ausfälle fortschreiten. Bei einem vaskulären TOS (venös oder arteriell) ist die Operation hingegen oft die primäre Behandlungsmethode, um lebensbedrohliche Komplikationen zu verhindern.
Das Ziel der Operation ist die Beseitigung der anatomischen Engstelle. Dies geschieht meist durch die Resektion (Entfernung) der ersten Rippe. Indem man diese Rippe entfernt, wird der Boden des Engpasses beseitigt und der Raum für Nerven und Gefäße dauerhaft erweitert. Je nach Ursache und Lage der Kompression werden zusätzlich folgende Schritte durchgeführt:
- Skalenektomie: Die Entfernung des vorderen und/oder mittleren Skalenusmuskels.
- Lösung von narbigen Strängen oder fibrösen Bändern.
- Bei vaskulärem TOS: Entfernung des Blutgerinnsels (Thrombektomie) und Wiederherstellung des Blutgefäßes, z.B. durch einen Bypass oder einen Patch.
Es gibt verschiedene chirurgische Zugangswege (transaxillär, supraklavikulär, infraklavikulär), deren Wahl von der Erfahrung des Chirurgen und der spezifischen Anatomie des Patienten abhängt. Die Operation des TOS ist ein komplexer Eingriff, der nur von spezialisierten Chirurgen in Zentren mit entsprechender Erfahrung durchgeführt werden sollte.
Leben mit TOS: Ein Ausblick
Das Thoracic-outlet-Syndrom ist eine komplexe Erkrankung, die das Leben der Betroffenen stark beeinträchtigen kann. Der Weg zur richtigen Diagnose kann steinig sein, doch es ist entscheidend, nicht aufzugeben. Mit einer exakten Diagnose und einer individuell angepassten Therapie sind die Prognosen heute gut. Viele Patienten mit einem neurogenen TOS erfahren durch eine konsequente Physiotherapie und Haltungsumstellung eine deutliche und dauerhafte Linderung ihrer Beschwerden. Bei den vaskulären Formen kann eine rechtzeitige Operation die Funktion des Armes vollständig wiederherstellen und gefährliche Komplikationen abwenden. Wenn Sie unter unerklärlichen Arm- oder Schulterbeschwerden leiden, die auf die Beschreibung des TOS passen, zögern Sie nicht, einen Spezialisten aufzusuchen. Es könnte der erste Schritt auf dem Weg zurück in ein schmerzfreies und aktives Leben sein.